Abtreibung in Deutschland

Ungewollt Schwangere werden immer schlechter versorgt

29:28 Minuten
Eine Frau kauert auf einem roten Platz in einer Ecke.
Die Zahl der Arztpraxen und Kliniken, die Abtreibungen durchführen, hat sich in den letzten 20 Jahren in Deutschland fast halbiert. © Unsplash / Verne Ho
Von Lydia Heller · 03.02.2022
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Ärztinnen und Ärzte, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen, geraten unter immer größeren Druck. Paragraf 219a des Strafgesetzbuches verbietet ihnen weitgehend, über ihre Methode zu informieren. Immer weniger Mediziner wollen Abtreibungen vornehmen.
Ich installiere Schwangerschafts-Apps auf dem Handy. Nicht, weil ich schwanger bin – das liegt bei mir schon lange zurück.
"Am ersten Tag nach der Befruchtung beginnt die erste Zellteilung, indem sich das befruchtete Ei teilt", bekomme ich von der App erklärt. "Vier bis fünf Tage nach der Befruchtung haben sich die Zellgruppen bereits in 21-64 Zellen geteilt und tragen den Namen Blastozysten."
Mich interessiert vielmehr, welche Bilder Schwangere heute begleiten. Darüber, was während einer Schwangerschaft in und mit ihrem Körper passiert. Und mich interessiert, welche Optionen sich ihr dann eröffnen.
Laut Fachmagazin Lancet gab es zwischen 2015 und 2019 rund 73 Millionen Schwangerschaftsabbrüche weltweit pro Jahr. In Deutschland waren es in den vergangenen drei Jahren jeweils etwas mehr als 100.000 – also etwa eine von 200 Frauen im gebärfähigen Alter hatte eine Abtreibung.
Meine Freundin, die Susanne genannt werden möchte, und ich waren Ende der 1990er-Jahre zwei dieser Frauen.

"Kannst du dich noch erinnern, wie das war, als du wusstest, du bist schwanger?", frage ich sie.
"Das war keine freudige Nachricht", sagt Susanne. "Das weiß ich noch. Ich habe mich nicht gefreut. Ich war eher extrem konsterniert und habe gedacht: Oh Gott, jetzt muss ich erst mal nachdenken. Und bei dir?"
"Ich weiß, dass ich bei einer Frauenärztin war und dass sie zu mir gesagt hat: Ja, an der Schwangerschaft besteht kein Zweifel. Und dass ich eine Sekunde gedacht habe: Ach guck mal, ich bin schwanger. Das ist ja echt ein Ding! Und dann erst dachte: Oh Gott, aber das ist jetzt so unpassend und so dermaßen nicht das, was ich jetzt als Punkt im Leben in Angriff nehmen wollen würde."

Keine wirklich freie Entscheidung

Oft bemerken Frauen ihre Schwangerschaft zwischen der vierten und sechsten Schwangerschaftswoche.
"In Woche fünf ist Ihr Baby etwa so groß wie ein Sesamsamen. Die ehemaligen inneren Zellen der Blastozyste beginnen sich neu zu ordnen. Sie formen den kleinen Embryo und die Vorstufe zu seinen Organen. In dieser Zeit beginnt die Entwicklung des Kreislaufs Ihres Babys. Und sein Herz schlägt."
Für Frauen, die unsicher sind, ob sie tatsächlich ein Kind bekommen wollen – oder die sicher sind, dass sie es auf keinen Fall wollen – wird spätestens jetzt klar: Die Entscheidung darüber ist keine wirklich freie. Auch 2020 nicht.

Das Feature ist eine Wiederholung vom 20.10.2020.

Eine der Entscheidungsmöglichkeiten – die Abtreibung – ist eine Straftat. Wer nicht bestraft werden will, für den – für die – läuft jetzt die Zeit.
Denn laut Paragraph 218a StGB ist der Tatbestand des Paragraphen 218 nicht verwirklicht, wenn
1.) die Schwangere den Schwangerschaftsabbruch verlangt und dem Arzt durch eine Bescheinigung nach § 219 Abs. 2 Satz 2 nachgewiesen hat, dass sie sich mindestens drei Tage vor dem Eingriff hat beraten lassen,
2.) der Schwangerschaftsabbruch von einem Arzt vorgenommen wird und
3.) seit der Empfängnis nicht mehr als zwölf Wochen vergangen sind.

Der Zeitdruck ist enorm

"Hast du damals mit vielen Freunden drüber gesprochen?", will Susanne wissen.
"Nein, nur mit dir", sage ich.
Sie habe die Leute, mit denen sie darüber gesprochen habe, gebeten, das nicht weiterzuerzählen, sagt Susanne: "Also, das war für mich schon so, dass ich dachte, ist auch ein bisschen anrüchig oder nicht wirklich gesellschaftlich akzeptiert. Man muss sich dafür rechtfertigen. Ich studiere noch, das geht jetzt irgendwie nicht. Also, den Druck hab ich schon gespürt."
Man ja auch Zeitdruck! "Dann wird dir ja gesagt: Sie sind in der neunten Woche oder was, das heißt, du hast irgendwie noch drei Wochen Zeit. Und da muss alles über die Bühne gegangen sein. Also, du musst die Termine gemacht haben, du musst dann auch da hingegangen sein und so weiter. Und weil es ja klar war, ich will das jetzt in Angriff nehmen, fand ich, da gab es einfach keine Notwendigkeit, da viele Gespräche zu führen."

Eine staatlich anerkannte Beratungsstelle finden, Termin machen, beraten lassen. Dann einen Arzt oder eine Ärztin finden, der oder die die Abtreibungen vornimmt, Termin machen. Und sich über die Kosten informieren:
"Ein Abbruch kostet zwischen 200 und 570 Euro je nach Praxis, Methode, Einkommen und Versicherung".
Mit der Krankenkasse die Übernahme regeln. Abbruchtermin wahrnehmen. Frühestens am vierten Tag nach der Beratung. Vorher noch ein Vorgespräch. Nebenbei Alltag, Arbeit, eventuell Familie organisieren, krankschreiben lassen oder Urlaub nehmen. Damit waren Susanne und ich Ende der 1990er-Jahre gut zwei Wochen beschäftigt. Und es ist nicht einfacher geworden.
Im Familienplanungszentrum Balance in Berlin führt Geschäftsführerin Stefanie Hoffmann durch die Räume. Knapp 6000 Klientinnen und Klienten kamen 2019 hierher: Schulklassen, Paare, Frauen zwischen 20 und 40 mit Fragen zur Familienplanung – und Frauen, die ihre Schwangerschaft nicht austragen wollten. Jährlich würden über 1000 Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen, sagt Hoffmann.*
Ein medikamentöser Schwangerschaftsabbruch ist in Deutschland bis zur neunten Schwangerschafts-Woche erlaubt.

"In Woche neun ist der embryonale Schwanz verschwunden. Täglich sieht Ihr Baby menschlicher aus. Durch die wachsenden Arme und Beine. Aber auch Nase, Mund, Augen und winzige Ohren sind gut erkennbar. Ihr Bauchbewohner ist so groß wie eine Traube und wiegt nur wenige Gramm."

Beim medikamentösen Schwangerschaftsabbruch erhält die Schwangere zwei Präparate: eins beendet die Schwangerschaft, das zweite – 48 Stunden später eingenommen – löst die Ausstoßung aus der Gebärmutter aus. Operativ sind zwei Methoden üblich: die Ausschabung auch Kürette genannt und die Absaugung.
"Die medikamentöse dauert länger, ist schmerzhafter, ist blutungsreicher", erklärt Minou Azizi. "Die operative dauert zehn Minuten. Aber das hängt immer von den Patienten ab. Manche zum Beispiel wollen, dass sie das mitkriegen, dass sie auch Schmerzen haben, dass sie auch den Fötus sehen. Die anderen wollen mit all dem nichts zu tun haben, die wollen das ganz schnell über sich ergehen lassen."

Keine Abtreibung bei Frauen, die sich unsicher sind

Einmal die Woche ist OP-Tag bei Balance, seit elf Jahren kommt dafür Minou Azizi ins Haus. Sie ist 75 Jahre alt und seit 50 Jahren Fachärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe.
"Wir saugen ab. Früher hat man kürettiert, die Zeit kenne ich auch noch. Das Problem ist, wenn man kürettiert, nimmt man von der Schleimhaut auch einiges mit. Und das kann später bei den Frauen zu Problemen führen. Das Absaugen ist ja so, dass wir nicht an das Endometrium direkt gehen, wir saugen ja das Embryo und die Nachgeburt. Und die Schleimhaut der Gebärmutter wird nicht sehr in Anspruch genommen. Bis 14 noch was kann man noch absaugen, ich persönlich mache bis 13+6."
"Das Baby sieht mehr und mehr aus wie ein fertig entwickelter Mensch, jedoch ist der Kopf sehr groß im Verhältnis zum Rest des Körpers. Das Gesicht besitzt die für Neugeborene charakteristischen Züge, jedoch ist noch nicht alles richtig an Ort und Stelle."
"Es ist auch so, dass wir nicht unbedingt wollen, dass sie abtreiben", sagt Azizi. "Es gibt auch Frauen, bei denen ich persönlich zum Beispiel merke, dass die Zweifel haben, dann mache ich gar nichts. Dann berede ich das mit denen und sage: Kommen Sie nächste Woche wieder, überlegen Sie. Wenn die Zeit da ist. Denn Sie müssen hundert Prozent dahinterstehen. Ansonsten machen wir gar nichts."
Und passiert das oft?
"Also 90 Prozent sind entschieden. 10 Prozent sind nicht entschieden."

"Ich glaube nämlich auch, da lagen ein paar Tage dazwischen, in denen wir auch gesprochen haben, mein damaliger Freund und ich, und eigentlich auch relativ schnell klar war: Das ist echt zu früh", erinnere ich mich. "Und das war auch keine schwere Entscheidung."
Bei Susanne war es ein bisschen anders: "Also, wenn jetzt mein damaliger Partner gesagt hätte: Ja, aber das ist doch toll. Und ich wollte immer schon gerne Kinder haben und komm, wir schaffen das und so, ich glaube, dann hätte ich vielleicht dieses Kind behalten. Aber bei dem Partner war das dann so, dass der von vornherein das komplette Gegenteil gesagt hat: Ich will niemals Kinder haben. Und deshalb war für mich dann am Ende die Frage: Würde ich es alleine wollen? Und da war für mich relativ schnell klar: Auf gar keinen Fall."

Auf dem Land "katastrophale Versorgungsengpässe"

Laut "Schwangerschaftskonfliktgesetz" müssen die Bundesländer in Deutschland sicherstellen, dass Schwangere ein ausreichendes Angebot an Einrichtungen vorfinden, in denen sie Abtreibungen vornehmen lassen können. Das Gesetz legt allerdings auch fest, dass niemand verpflichtet ist, an Schwangerschaftsabbrüchen mitzuwirken.
Die Teilnehmerin einer Demonstration hält einen weißen Luftballon in der Hand, auf dem steht "Weg mit 219a".
Protest für die Streichung des § 219a, der das Werben für Schwangerschaftsabbrüche verbietet, in Berlin (Archivbild von 2018).© imago / Christian Mang
"Was die medizinische Versorgung angeht, da haben wir tatsächlich eine ziemlich schwierige Entwicklung gehabt im Laufe der letzten Jahre", sagt Jutta Reippainen, Sprecherin im Berliner Familienplanungszentrum Balance:
"Seit 2003 ist die Anzahl an Ärzt*innen, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen, weniger geworden."
1120 Kliniken und Arztpraxen meldeten laut Statistischem Bundesamt im ersten Halbjahr 2020, dass sie Abbrüche vornehmen. Anfang der 2000er-Jahre waren es noch fast doppelt so viele.
"Das kriegt man natürlich in den ländlichen Gebieten besonders hart zu spüren, wo die flächendeckende Versorgung nicht gewährleistet werden kann. Wenn da eine praktizierende Ärztin oder ein Arzt aufhören, dann sprechen wir wirklich über katastrophale Versorgungsengpässe."
Immer wieder kommen Schwangere aus Brandenburg ins Berliner Familienplanungszentrum, weil sie in ihrer Umgebung keine Praxis für Schwangerschaftsabbrüche finden. 15 Prozent der Abbrüche in Deutschland etwa werden trotz höherer Komplikationsrate weiter mit der Kürette vorgenommen, medikamentöse Abtreibungen werden in vielen Praxen überhaupt nicht angeboten. Vor allem im Süden Baden-Württembergs und in der Region um Bremen ist die Versorgungslage inzwischen zum Teil prekär, in Niederbayern und in der Oberpfalz gibt es derzeit gar keine Fachleute mehr, die Abtreibungen vornehmen. Am städtischen Klinikum Passau sind sie seit Jahren per Stadtratsbeschluss verboten.
"Die Tatsache, dass Ärzt*innen, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen jederzeit angezeigt werden können – das sind so ganz grundsätzliche Fragen, die Ärzt*innen dann motivieren, das zu lassen", sagt Jutta Reippainen. "Weil ich mir diesen Stress ersparen will."

Werbung für Abtreibungen ist verboten

Die Rechtslage ist auch für Medizinerinnen und Mediziner widersprüchlich: Kann es zum Beispiel als Werbung nach Paragraph 219a Strafgesetzbuch ausgelegt werden, wenn eine Praxis darüber informiert, dass und wie sie Schwangerschaftsabbrüche vornimmt? Wenn ja, droht eine Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren, mindestens eine Geldstrafe. Zudem: Wie ein Schwangerschaftsabbruch vorgenommen wird, wird in der Ausbildung oft nur rein technisch anhand der Behandlung von Fehlgeburten vermittelt.
Und wer Abbrüche durchführt, kann eher nicht mit brancheninterner Unterstützung rechnen: Im Sommer 2020 etwa schlug das baden-württembergische Sozialministerium vor, man könne die Neueinstellung von Ärztinnen und Ärzten in Unikliniken des Landes an deren Bereitschaft koppeln, Abtreibungen durchzuführen. Die Antwort der zwei größten Berufsverbände für Gynäkologie kam umgehend per Presseerklärung:
"Die Entscheidung, an einem Schwangerschaftsabbruch teilzunehmen, stellt das medizinische Personal vor große ethische Herausforderungen. Eine Abtreibung ist nach Überzeugung Vieler die Beendigung eines Lebens. Das muss jede/jeder Beteiligte vor seinem/ihrem Gewissen rechtfertigen."

Konservativer Rollback in der Gesellschaft

"Es hat schon auch einen konservativen Rollback in der Gesellschaft gegeben", betont Jutta Reippainen. "Die christlich-fundamentale Bewegung ist politisch sehr gut vernetzt. Auf europäischer Ebene, auch international. Das merkt man dann schon auch bei Beratungsstellen oder bei praktizierenden Ärzt*innen, wo Menschen ganz organisiert Gebetsaktionen vor den Beratungsstellen machen, Bilder von Föten tragen, Kreuze tragen und Parolen sagen oder einfach beten. Das ist eine Störaktion der Arbeit dort. Und verunsichert ganz sicher die, die Rat suchen."

"Kannst du dich erinnern, dass du Gespräche hattest mit dem Arzt über das Verfahren?", frage ich Susanne. "Also, ich kann mich erinnern, dass ich mich sehr aufgehoben gefühlt habe bei diesem Arzt und er hat mir genau das Verfahren erklärt, von A bis Z, und dass sie ausschaben. Das fand ich, ehrlich gesagt, an allem das Gruseligste, dieses 'ausschaben', da musste ich ein bisschen schlucken."
"Ja, ich erinnere mich auch, dass der Arzt, bei dem ich dann war, dass er gesagt hat, dann wird der ‚Inhalt der Schwangerschaft‘ abgesaugt – und dass ich mich gefragt habe, also ich mich, nicht ihn, weil die Antwort wollte ich nicht hören: ‚Und dann machen sie das – wohin?"

"Wir sind hier für den Schutz des ungeborenen Lebens"

Berlin, Ende September. Der Bundesverband Lebensrecht hat zum inzwischen 16. "Marsch für das Leben" aufgerufen, zwischen zwei- und dreitausend Menschen aus ganz Deutschland sind angereist.
"Leben ist ein Wunder", sagt ein Teilnehmer. "Und es ist doch schade, wenn Menschen so viel Intelligenz bekommen haben und die dann nutzen, um das kaputtzumachen, was so kostbar ist."
Eine andere Teilnehmerin erklärt: "Ich bin Mutter von neun Kindern und gelernte Krankenschwester. Und wir standen selber in unserer Ausbildung mit im Gyn-OP. Und beim Absaugen, im Glas, sah man einen zerschmetterten Körper, Blut und Gewebe und alles und dieses sollte ich entsorgen, genau dort, wo die Krankenschwestern die Schieber entleert haben."
Und ein dritter meint: "Abtreibung geht nicht. Sanktionierter Mord. Der Staat hat das sanktioniert, dass es bis zur 12. Woche straffrei geht. Und das geht nicht. Wir kennen ja Bilder von diesem Alter, wo Kinder schon richtig ausgebildet sind."
Abtreibungsgegner beim "Marsch für das Leben" am 22.9.2018 in Berlin. 
Schon 2018 beim "Marsch für das Leben" in Berlin dabei: Alexandra Linder, in der 1. Reihe im gestreiften Blazer. (Archivbild)© imago / epd-bild/ ChristianDitsch
Organisiert werden diese Märsche für das Leben vom Bundesverband Lebensrecht. Dessen Vorsitzende ist seit 2017 Alexandra Linder.
"Wir haben ja das Glück, dass es noch nie wissenschaftlich so gut erforscht werden konnte wie heute, durch die technischen Möglichkeiten, wann der Mensch beginnt, ein Mensch zu sein", so Linder. "Und die Embryologie hat nachgewiesen: Es ist ab der Zeugung ein genetisch vollständiger Mensch. Es kommt nichts mehr hinzu. Es geht nichts mehr weg. Er muss sich nur noch entwickeln."
Seit 1992 engagiert sich Alexandra Linder im Verein "Aktion Lebensrecht für alle".
"Und wenn dann bei Pro Familia steht: ‚Der Gebärmutterinhalt wird abgesaugt‘, denken sich die Leute: ‚Ja okay, da wird der Gebärmutterinhalt abgesaugt‘. Dass das ein kompletter Mensch ist, der da zerstückelt, zerrissen, umgebracht wird – der Mensch wird definitiv getötet dabei."

"Mit zehn Wochen und etwas größer als eine Traube erreicht Ihr Baby das fötale Entwicklungs-Stadium. In den nächsten Wochen werden sein Gewebe und die Organe schnell wachsen und reifen. Ihr Baby kann seine Hände öffnen und schließen und die Zehen rollen."

Menschliches Leben beginne mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle, deshalb müssten ihm ab diesem Zeitpunkt Menschenwürde und Menschenrechte zugesprochen werden. Mit dieser Position gewinnen Abtreibungsgegner wie Alexandra Linder auch in Deutschland seit einigen Jahren Anhänger.
"Die Seite der Abtreibungsbefürworter geht davon aus, das Selbstbestimmungsrecht der Frau steht über dem Lebensrecht des Kindes", sagt Linder. "Und wir gehen davon aus, dass es zwei Personen sind mit exakt den gleichen Rechten, die eben miteinander versöhnt werden müssen, damit keine Personen, keine Personenrechte dabei verletzt oder negiert werden."
In Deutschland wurde diese Abwägung allerdings bereits getroffen.
"Das Grundgesetz verpflichtet den Staat, menschliches Leben, auch das ungeborene, zu schützen. Menschenwürde kommt schon dem ungeborenen menschlichen Leben zu. Die Grundrechte der Frau tragen nicht so weit, dass die Rechtspflicht zum Austragen des Kindes - auch nur für eine bestimmte Zeit - generell aufgehoben wäre."
So das Bundesverfassungsgericht 1993.

Ungeborenes Leben braucht den Körper einer Frau

Unstrittig ist auch: Mit der Befruchtung einer Eizelle entsteht etwas völlig Neues. Und Lebendiges. Das wächst und sich individuell entwickelt. Diese biologische Tatsache schließt aber nicht aus, dass man innerhalb dieses Kontinuums Abschnitte ausmachen – und diese ethisch unterschiedlich bewerten könnte: die Zeit bis zur Einnistung der befruchteten Eizelle in die Gebärmutter zum Beispiel.
Die Phase bis zum – oder ab dem – ersten Herzschlag, die Phase, in der sich die Organe ausbilden, oder der Zeitpunkt, ab dem die eigenständige Lebensfähigkeit erreicht ist. Man könnte auch einer anderen biologischen Tatsache ethisch und moralisch mehr Bedeutung beimessen: Ungeborenes Leben braucht den Körper einer Frau.

"Kannst du dich noch erinnern, wie das dann ablief?", frage ich Susanne.
"Ich meine, ich habe eine Narkose bekommen, aber keine Vollnarkose, sondern lokal, weil ich mich irgendwie erinnere, das hat nicht so lange gedauert, bis das dann weg war", sagt sie. "Und ich war noch ganz überrascht. Huch, so schnell?"
"Ich hatte eine Vollnarkose. Genau, da weiß ich noch, dass ich da irgendwann aufgewacht bin und wirklich dachte, Gott sei Dank, es ist jetzt vorbei."
"Mir ging es auch so, dass ich total froh war, dass es vorbei war. Diese Prozedur", sagt Susanne.

"Der Staat hat kein Recht, der Frau das vorzuschreiben"

"Ich glaube, die grundlegende Frage ist immer: Auf wen guckt man? Guckt man auf die Frau primär, in deren Körper und in deren Leben sich vieles ändern wird, wenn eine Schwangerschaft ausgetragen wird", sagt Ines Scheibe, Psychologin in der humanistischen Schwangerschaftskonfliktberatung in Berlin und engagiert im Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung.
Ginge es nach ihr und ihren Mitstreiterinnen und Mitstreitern, wären der Paragraph 218 abgeschafft und Schwangerschaftsabbruch keine Straftat, sondern eine normale Gesundheitsleistung:
"Zum Schluss ist es das Leben der Frau, das sich grundlegend verändert. Und ich denke, da hat auch der Staat kein Recht, ihr vorzuschreiben, wie sie ihr Leben zu leben hat und wann sie die Kinder und ob sie überhaupt Kinder bekommt. Und das sind schon wichtige Fragen, weil natürlich schon die Schwangerschaft ganz viel mit dem Körper der Frau macht. Auch eine Geburt ist jetzt nicht mal so nebenher gemacht. Das ist auch eine höchste Leistungsanforderung und ich denke, alles das muss man natürlich mit sehen."
Auch Lebensschützer leugnen nicht, dass Schwangerschaft eine Anstrengung ist, mit der Frauen überfordert sein können. Und Mutterschaft eine Aufgabe, der sich Frauen oft nicht gewachsen fühlen. Für diese Fällen fordern sie – ganz ähnlich wie Abtreibungsbefürworter – bessere soziale Netzwerke für Mütter, bessere finanzielle Ausstattung – generell mehr Anerkennung für die Leistungen, die Mütter erbringen. Nur: ob eine Frau überhaupt Mutter sein will – die Frage stellen Abtreibungsgegner nicht. Zumindest nicht mehr dann, wenn diese Frau schwanger geworden ist. Ab dem Punkt gibt es für sie eine Mutter und ein Kind. Ines Scheibe sieht das anders:
"Wir vertreten die Auffassung, wenn die Frau es als ihr Kind annimmt mit der Perspektive, Mutter zu werden, ist es ihr Kind. Aber vorher sind wir da sehr vorsichtig mit den Bezeichnungen. Es ist eine ungewollte Schwangerschaft. Es ist ein Fruchtgewebe in der Gebärmutter der Frau. Und natürlich kann daraus – und das wissen auch die Frauen, dass daraus ein Kind werden kann, aber nur, wenn die Mutter die Bereitschaft mitbringt. Und da sind wir uns ja als Berater*innen, sogar in kirchlichen Beratungsstellen, ziemlich einig, dass man gegen den Willen einer Frau kein Kind austragen lassen kann. Weil, das ist Psychoterror."
Ultraschallaufnahme eines Fötus im 6. Monat.
Durch bildgebende Verfahren haben wir heute ein anderes Verständnis vom Fötus.© imago / Westend61
"Diese Idee, schwangere Frauen bereits als Mütter zu sehen und die Embryos oder Föten in ihnen als ihre Kinder – das ist, was die Feministin Lauren Berlant 'fötale Mutterschaft' genannt hat. Schwangere werden da von vornherein als ‚werdende Mütter‘ gedacht, Frau und Kind als jeweils autonome Subjekte, die in einer Beziehung stehen", sagt Erica Millar, Soziologin an der La Trobe University in Melbourne. Sie beobachtet die Debatten für und gegen Abtreibung seit vielen Jahren.
"Aber Schwangerschaft ist ein einzigartiger, besonderer Zustand, in dem eine Zeitlang weder ein noch zwei unabhängige Körper existieren – sondern es ist 'zwei in eins'. Sowas gibt es auf der Welt außerhalb von Schwangerschaft nicht. Und deshalb ist das schwer zu denken. Alle unsere westlichen Ontologien gehen vom autonomen Subjekt aus. Das passt aber bei Schwangerschaft nicht.

"In Woche 14 sind die Augen und Ohren in der richtigen Position. Ihr Baby kann blinzeln, die Stirn runzeln und Grimassen schneiden."

Entwicklungen in der pränatalen Medizin – vor allem bildgebende Verfahren – haben dabei in den letzten Jahren dazu beigetragen, dass die Rolle der Frau gegenüber dem Embryo oder Fötus mehr und mehr "aus dem Blick" geraten ist.
"Seit den 1970er-Jahren hat sich unser Verständnis davon, was ein Fötus ist, stark verändert", sagt Millar.
"Das hat viel mit Techniken wie Ultraschall zu tun. Ultraschalluntersuchungen während der Schwangerschaft gab es in den 70ern gar nicht, heute gehören sie dazu. Und wenn dann Bilder dieser Untersuchungen in öffentlichen Foren gepostet werden zum Beispiel – dann sehen wir immer nur den Fötus – ohne den Körper der Frau. Als wenn der Fötus eine frei herumschwebende Person wäre. Und das hat dazu beigetragen, dass wir heute eine Vorstellung von fötaler Autonomie haben, wie es sie noch nie gab."

"Aber hast du dann die Tage danach noch in Erinnerung?", frage ich Susanne.
"Ja – total! In dem Moment, wo ich die Praxis verlassen habe, fing ich an zu heulen!"
"Du auch? Ja. Ich auch. Ganz schlimm hab ich da geheult. Und ich kann gar nicht richtig sagen, warum? Das war bei mir ganz genau das Gleiche. Ich war eigentlich noch total gefasst, ich war erleichtert und wir waren dann noch in einem Café. Und ich habe total geheult. Und ich konnte überhaupt nicht erklären, warum. Und dann dachte ich, das ist vielleicht auch einfach die Anspannung, die abfällt. Ja. Es ist doch sehr aufgeladen und es ist jetzt auch keine leichtfertige Entscheidung, die man da fällt."

"Alles andere wäre Leibeigenschaft"

Menschen müssen sich durch Schwangerschaften und Geburten fortpflanzen. In Bezug auf diese Fähigkeit aber – so schreibt die Politikwissenschaftlerin Antje Schrupp in ihrem Buch "Schwanger-Werden-Können" – besteht ein Ungleichgewicht: Schwanger werden und Kinder bekommen – das können bisher nur Menschen mit Uterus. Fast durch die gesamte Geschichte hindurch hatten Menschen, die selbst nicht schwanger werden und gebären können, deshalb ein Interesse daran, die Schwangeren und Gebärenden zu kontrollieren. Und die Vorgänge rund um eine Schwangerschaft ihren Normen zu unterwerfen. Das ist bis heute so. Aber es bleibt nicht mehr unwidersprochen.
"Die körperlichen Vorgänge im Rahmen einer Schwangerschaft kann nur die Schwangere selbst interpretieren. Und es ist durchaus legitim zu sagen, ich betrachte das als Zellhaufen, deswegen treibe ich ab. Aber das kann man nicht sozusagen zum objektiven Fakt machen. Weil für eine andere Schwangere kann dieser Embryo eben das Kostbarste sein, was sie sich in ihrem Leben vorstellen kann. Und der entscheidende Punkt ist: Beide Interpretationen sind richtig, weil die Interpretation dessen, was in dem Körper einer Schwangeren vorgeht, niemand an ihrer Stelle übernehmen darf. Alles andere wäre Leibeigenschaft."

"Ich kann mich auch erinnern, dass diese Erleichterung über diese Entscheidung angehalten hat", sagt Susanne. "Ich bin durchgestartet und hab dann mein Studium durchgezogen. Und dieses Gefühl hat sich eigentlich durchgehalten bis heute. Und bei mir war das ja ein bisschen komplizierter als in deinem Fall, Du hast ja ein Kind. Ich bin kinderlos geblieben und werde das auch den Rest meines Lebens bleiben. Nichtsdestotrotz war es am Ende eine richtige Entscheidung für mich und die trage ich bis heute ohne große negative Folgen für mich. Ich bereue es in keiner Sekunde."
Bei mir war es so: "Ich dachte schon: Okay, wenn ich nochmal schwanger sein sollte, dann wird das durchgezogen." - "Und das ja dann auch so", sagt Susanne.
Und ich würde tatsächlich jetzt, Bilanz mit 47, würde ich sagen: Das waren zwei richtige Entscheidungen.

*) Wir haben an dieser Stelle einen inhaltlichen Sachverhalt präzisiert.

Mitwirkende
Autorin: Lydia Heller
Sprecherin und Sprecher: Barbara Becker und Torsten Foeste
Regie: Cordula Dickmeiß
Technik: Christoph Richter
Redaktion: Kim Kindermann

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