Sehr geehrte Mitglieder des Gesundheitsausschusses,
sehr geehrte Fraktionsvorsitzende von CDU, SPD, Bü90/Die Grünen und Die Linke,
der Paritätische Berlin kritisiert aufs Schärfste die geplante Kürzung von rund einer Million Euro bei den Schwangerschaftsberatungsstellen im Haushaltsentwurf 2024/2025. Die Kürzung richtet sich direkt gegen die Selbstbestimmung von Frauen. Es sind Sparmaßnahmen auf dem Rücken von Frauen, die sich in existentiellen Notlagen befinden. Es ist ein Unding, dass Berlin es seit Jahren nicht schafft, seinen gesetzlichen Versorgungsauftrag zu erfüllen. Nun auch noch das Angebot kürzen zu wollen, ist aus unserer Sicht schlicht frauenfeindlich.
Im Haushaltsentwurf 2024/2025 (Einzelplan 09, Titel 68406 Nr. 8 Beratungsstellen auf Grundlage des Schwangerschaftskonfliktgesetzes) sind lediglich 4.455.820 Euro für 2024 und 4.773.850 Euro für 2025 veranschlagt und damit rund eine Million Euro jährlich weniger als 2023 (5.400.000 Euro).
Die Förderung von Schwangerschaftsberatungsstellen ist keine freiwillige Leistung. Der Gesetzgeber hat sich mit dem Schwangerschaftskonfliktgesetz (SchKG) zur Förderung von Schwangerschaftsberatungsstellen (§3 SchKG) und Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen (§8 SchKG) gesetzlich verpflichtet. Im §4 SchKG Absatz 1 ist der gesetzliche Versorgungsauftrag verankert: Für je 40 000 Einwohner muss mindestens eine Beraterin/ein Berater vollzeitbeschäftigt oder eine entsprechende Zahl von Teilzeitbeschäftigten zur Verfügung stehen. Ein Schwangerschaftsabbruch ist nur mit der Beratungsbescheinigung einer anerkannten Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle straffrei möglich.
Das Land Berlin verletzt bereits aktuell seinen gesetzlichen Versorgungsauftrag massiv.
Es fehlen rund 18 Vollzeit-Beratungskräften und damit 18,7 % des Mindest-Personalschlüssels!
Eine schriftliche Anfrage (Drucksache 19 / 14 740) im Februar offenbarte, dass Berlin die gesetzliche Vorgabe gravierend unterschreitet und aktuell 18 Vollzeit-Beratungsstellen und damit 18,7 % zu wenig vorhält. Deshalb ist ein Aufwuchs auf 9.220.000 Euro für 2024 und 9.870.000 Euro für 2025 zwingend erforderlich, um dieses gravierende Versorgungsdefizit zu schließen.
Seit Jahren steigen in Berlin die Beratungszahlen und die Beratungsstellen sind am Limit. Die vergangene und aktuellen Krisen haben die Lebenssituation vieler Mädchen und Frauen in Berlin verschärft - dazu kommen prekäre Beschäftigungsverhältnisse und Wohnungsnot. Insbesondere unsere nicht-konfessionellen Beratungsstellen spüren das Defizit an Beratungskräften durch die große Nachfrage ihrer Beratungsangebote. Es müssen immer mehr Hilfesuchende abgewiesen werden.
Folgende Zahlen verdeutlichen den enormen Bedarf:
- Allein im 1. Halbjahr 2023 haben die Beratungsstellen in Paritätischer Mitgliedschaft rund 1604 Beratungen aufgrund fehlender Kapazitäten absagen müssen – davon 597 Konfliktberatungen und 120 Anfragen von Schulen für sexualpädagogische Workshops.
- Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen in Paritätischer Mitgliedschaft haben gegenüber der Senatsverwaltung eine Überlastungsanzeige gestellt und können eine Konfliktberatung nicht in der gesetzlich vorgegeben Frist (unverzüglich) anbieten.
- Die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche in Berlin ist fast doppelt so hoch wie im Bundesdurchschnitt: 111 Abbrüchen (pro 10.000 Frauen mit Wohnsitz in Berlin) wurden 2022 vorgenommen im Vergleich zum Bundesdurchschnitt von 62. Insgesamt wurden 9.330 Schwangerschaftsabbrüche für Berlin gemeldet – für Deutschland insgesamt 103.927. Jede Frau benötigt nach §218a Abs.1 Satz 1 eine Beratungsbescheinigung und dementsprechend hoch ist der Bedarf an Konfliktberatungen in Berlin.
- Die Antragsstellung für die Stiftung Hilfen für die Familie in Not erfolgt zum Großteil über die Schwangerschaftsberatungsstellen in freier Trägerschaft. Rund 5 Millionen Euro werden jährlich an Schwangere in Not vergeben und damit erhält rund jedes fünfte in Berlin lebendgeborene Kind bzw. dessen Mutter oder Familie diese finanzielle Unterstützung.
Im Koalitionsvertrag (S. 92) haben sich die Regierungsparteien zur Stärkung der Schwangerschaftskonfliktberatung bekannt.
Wir appellieren deshalb an Sie: Setzen Sie sich dafür ein, dass Berlin endlich den gesetzlich verpflichtenden Versorgungsauftrag erfüllt und insbesondere schwangere Frauen in Not, die vorgesehene Unterstützung erhalten. Nehmen Sie nicht die existentielle Not von Mädchen und Frauen in Kauf!
HINTERGRUNDINFORMATIONEN
Allgemeine Schwangerenberatung:
Nach §2 SchKG hat jeder Mann und jede Frau das Recht, sich in Fragen der Sexualaufklärung, Verhütung und Familienplanung sowie in allen eine Schwangerschaft unmittelbar oder mittelbar berührenden Fragen von einer hierfür vorgesehenen Beratungsstelle beraten zu lassen. Der Anspruch auf Beratung umfasst nach §2 Abs. 2 SchKG Informationen über:
- Sexualaufklärung, Verhütung und Familienplanung
- bestehende familienfördernde Leistungen und Hilfen für Kinder und Familien wie Elterngeld
- soziale und wirtschaftliche Hilfen für Schwangere, insbesondere finanzielle Leistungen sowie Hilfen bei der Suche nach Wohnung, Arbeits- oder Ausbildungsplatz oder deren Erhalt,
- die Hilfsmöglichkeiten für behinderte Menschen und ihre Familien, die vor und nach der Geburt eines in seiner körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheit geschädigten Kindes zur Verfügung stehen,
- die Methoden zur Durchführung eines Schwangerschaftsabbruchs, die physischen und psychischen Folgen eines Abbruchs und die damit verbundenen Risiken,
- Lösungsmöglichkeiten für psychosoziale Konflikte im Zusammenhang mit einer Schwangerschaft,
- die rechtlichen und psychologischen Gesichtspunkte im Zusammenhang mit einer Adoption.
Beratung im Schwangerschaftskonflikt:
§§ 5-7 SchKG regelt die Beratung im Schwangerschaftskonflikt. Nach Abschluss der Beratung ist der Schwangeren eine Bescheinigung auszustellen. Die Beratung hat unverzüglich zu erfolgen.
Das Angebot der Schwangerschaftsberatungsstellen ist insbesondere für Frauen in Notlagen von grundlegender Bedeutung:
- Der Schwangerschaftsabbruch muss bis zur 12. Woche erfolgen und ist nur mit dem Beratungsschein straffrei. Das bedeutet einen enormen Zeitdruck für die Frau und die Beratungsstellen. Wenn erforderlich, sind zur Beratung Fachkräfte mit besonderer Erfahrung z.B. in der Frühförderung behinderter Kinder hinzuzuziehen. Wünscht die Schwangere eine Fortsetzung der Gespräche, sollten diese unverzüglich erfolgen.
- Der Bedarf von Konfliktberatungen nimmt auch aufgrund von Pränataldiagnostik immer mehr zu. Die vorgeburtlichen Untersuchungen, die Aussagen über bestimmte Krankheiten und Behinderungen des Kindes machen, lassen Schwangere zweifeln, ob sie die Schwangerschaft fortsetzen möchten und erhöhen den Beratungsbedarf.
- Dazu kommen besondere Beratungen wie § 25 SchKG „Beratung zur vertraulichen Geburt“, bei der sich eine ungewollt Schwangere meist in weit fortgeschrittener Schwangerschaft erstmals einer Fachkraft anvertraut und deren Begleitung sehr aufwendig ist.